Als die Idee entstand, eine Kolumne mit dem Titel „Als Mann am TCE..." zu starten, war ich erst einmal ein bisschen verwundert. Natürlich ist es so, dass man als männlicher Therapeut im Essstörungsbereich und damit auch im TCE ein bisschen exotisch ist. Aber das war es dann eigentlich auch schon wieder. Eigentlich denke ich selten explizit über mein Geschlecht nach, wenn ich durch die Flure laufe, im Einzel bin, Gruppen leite oder im Team sitze. Dann bin ich einfach ich. Dass ich meinem Geschlecht so überaus wenig Bedeutung beimesse, heißt aber natürlich nicht, dass das für das Umfeld auch so ist. Und das ist der Auftakt zur ersten Kolumne der Reihe „Als Mann am TCE..."
Manchmal sind Patientinnen ein bisschen skeptisch, wenn sie beim einzigen Mann im Therapeutenteam im Einzel landen. Manchmal finden sie es besonders interessant. Und manchmal ist es überhaupt kein Thema – und wiederum manchmal sagen sie mir dann nach vielen gemeinsamen Monaten, dass es eigentlich doch ein recht großes Thema zu Beginn war, sie sich aber nicht getraut haben, das laut auszusprechen. (Eigentlich freue ich mich an dieser Stelle dann immer besonders darüber, dass wir scheinbar zusammen an einen Punkt gekommen sind, wo es dann zum Glück doch völlig okay sein darf, über so was zu sprechen.)
Wenn mal ein männlicher Patient im TCE vorbeischaut, nehme meistens ich ihn unter meine Fittiche. Nicht selten bin ich der erste männliche Therapeut in dessen Vita und für gewöhnlich freuen sich die Jungs und Männer über einen gleichgeschlechtlichen Therapeuten. Bisher konnte ich noch nicht eruieren, ob die Freude dauerhaft anhielt, als sie im Verlauf feststellten, dass das Geschlecht ja dann doch nicht so im Mittelpunkt steht und ich wie jeder andere auch meine guten und schlechten Seiten mitbringe, deren Kombi unterschiedlich gut mit dem Gegenüber matcht.
Jedenfalls: Zumindest ganz kurz steht mein Geschlecht immer im Fokus. Wenigstens das eine Mal, wenn ich beim ersten Zusammentreffen danach frage, ob das eine Rolle spielt. Selten später noch mal. Und besonders spannend: Bisher noch nie dauerhaft. Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass das Geschlecht völlig unbedeutend wird im Laufe der Zeit. Vor einigen Jahren hat mir einmal eine Patientin, die ich schon einige Monate kannte, von einer typischen „Frauenproblematik" erzählt und war sehr irritiert, als ich eine Verständnisfrage dazu hatte. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass wir ja gar nicht das gleiche Geschlecht haben. Wir mussten beide herzhaft darüber lachen. Ich vor allem vor Freude, dass wir offenbar einfach als Menschen miteinander sprechen können und uns nicht explizit als Mann oder Frau gegenübersitzen müssen.
Manche Patientinnen haben keine sonderlich guten Erfahrungen mit Männern gemacht. Manche spüren riesengroße Erwartungen vom anderen Geschlecht, was das Bild der Frau, das Auftreten und das Aussehen anbelangt. Manche fühlen sich regelrecht nur noch auf den Körper reduziert.
Und dann komme ich daher. Ein männlicher Therapeut. Eine therapeutische Beziehung bedeutet unweigerlich Nähe und Verletzlichkeit, die Bereitschaft für Vertrauen und Raum für Zerbrechliches. Und dass ich mich mit nichts von dem, was Patientinnen möglicherweise mit Männern erlebt oder als Erwartungshaltung von ihnen gespürt haben, identifiziere, ist ihnen wahrscheinlich anfangs gar nicht klar. Wieder bin ich nur ich. Ein Mensch mit ehrlichem Interesse am Gegenüber, mit viel Wohlwollen im Gepäck und der eigentlich ganz unbedrohlich ist. Das gilt es für manche wahrscheinlich immer wieder herauszufinden und zu überprüfen – so lange, bis das Geschlecht verblasst und es nur noch eine sichere, möglichst geschlechtlose Bindung geben darf.
Vielleicht bin ich da auch ein bisschen idealistisch. Und wahrscheinlich spielt das Geschlecht ganz oft doch ein bisschen mit rein. Und wegen mir darf es das auch – solange es nicht ganz viel Unsicherheit und Belastung beim Gegenüber hervorruft. Dann ist es gut, darüber zu reden. Und vermutlich gemeinsam herauszufinden, dass es weniger das Geschlecht als solches und mehr die Assoziationen und damit verknüpften Geschichten sind, die das Gegenüber in die Not bringen.
Zurück ins TCE: Ich kriege meine Sonderrolle eigentlich selten bewusst mit. Vermutlich habe ich zu wenig Sinn für Äußerlichkeiten und damit auch Geschlechterrollen. Meistens müssen mich Kollegen explizit darauf hinweisen, wenn jemand auf einmal blaue Haare oder sich eine neue Garderobe zugelegt hat. Das geht oft ein bisschen an mir vorbei, weil mein Radar eher die ganzen inneren Prozesse aufschnappt. Und so laufe ich eigentlich nur als Mensch durchs TCE und sehe ganz viele andere Menschen.
Und vielleicht ist es ja auch so: Je weniger ich mein eigenes Geschlecht auf dem Schirm habe, umso weniger Bedeutung muss es fürs Gegenüber haben. Und umso mehr können wir einfach nur ein Stück Weg zusammengehen und geschlechtsneutral neue Umgebungen erkunden – bis wir einen guten Ausgangspunkt gefunden haben, von dem aus es sich gut und sicher genug anfühlt, ohne den Exoten-Mann vom TCE weiterzulaufen.
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Jan Winzinger ist Psychologe (M.Sc.), Systemischer Therapeut und Familientherapeut und seit Anfang 2019 im TCE.