Wenn Bäume in den Himmel wachsen – Abschlussbilanz der Intensivphase
Fast viereinhalb Monate bzw. 18 Wochen, also 126 Tage bzw. 3.024 Stunden ... so lange bin ich jetzt schon hier im TCE. Lange wollte ich lieber alleine den vermeintlich unkomplizierten Weg weitergehen und einfach so weitermachen, als mich dem zu stellen, was mich belastet. Lieber in der bestehenden Situation bleiben, statt meinen Mut zusammenzunehmen und den Umweg zu gehen, mich von Dingen zu lösen, mich Ängsten und Schwächen zu stellen und intensiv mit meinem Innersten auseinanderzusetzen. Einfach weil ich dachte, dass es der weniger schmerzhafte Weg ist. Dann bin ich den Umweg doch gegangen, und ich hätte mir anfangs nie vorstellen können, was mir die Zeit hier bringt und wie ich mich entwickeln werde.
Vorher bestand mein Lebensinhalt nur daraus, mich selbst zu hassen, und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich schnellstmöglich jemand werde, der ich nicht bin. Jeden Tag beschäftigte mich nur das Thema Essen und mein Aussehen, mein ganzer Alltag wurde davon bestimmt. Oft habe ich das Haus nicht mehr verlassen, alle Verabredungen abgesagt und nur darüber nachgedacht, wie ich es schaffe, heute nichts zu essen, und welche Ausreden mir diesbezüglich wieder einfallen. Abendliche Essanfälle und zigfaches Erbrechen waren mein Alltag. 24/7 immer das Gleiche, Tag für Tag. Für keine anderen Gedanken und Gefühle war mehr Platz in meinem Kopf. Das Leben von allen anderen schien immer besser und perfekter zu sein, als mein eigenes.
Und jetzt sitze ich hier, habe ich schon so viel geschafft und an meiner Sichtweise gearbeitet, auch wenn es mir oft immer noch schwer fällt und der Kampf täglich weitergeht. Aber irgendwie versuche ich nun alles etwas gelassener zu sehen. Im Großen und Ganzen betrachtet, sind wir ja auch alle einfach nur Menschen. Verschiedene Haarfarben, Größen, Augen, Nasen, Münder. Wir werden alle irgendwann geboren, verlassen die Welt wieder und machen Platz für andere, die sich auch nur ins große Ganze einreihen. Wir sollten immer an Folgendes denken: So besonders wie wir sind, sind DANN auch unsere Persönlichkeiten, Gedanken und Gefühle. Keine Geschichte auf der Welt gleicht einer anderen zu hundert Prozent. Wir können zwar über alles sprechen und es teilen. Aber wie es sich in unserem Inneren, in unserem Herzen, in unserem Kopf anfühlt, das kann niemand genauso spüren. Das macht uns einzigartig. Und ich finde irgendwie, dass sich das gut anfühlt, zu wissen, dass jeder besonders ist. Nicht ersetzbar, sondern individuell. Und daran sollten wir immer denken, wenn wir uns das nächste Mal wertlos und unnütz fühlen. Auch ich musste das in den letzten Wochen erst lernen und werde dies auch künftig weiterhin lernen müssen. Erkennen, dass ich okay bin, genauso wie ich bin. Aufhören, darüber nachzugrübeln, ob die Dinge nicht so und so gekommen wären, wenn ich da und dort irgendwie anders gehandelt hätte. Aufhören, Fehler an mir zu suchen, wenn jemand beschließt, seinen Weg ohne mich fortzusetzen. Mich nicht kleiner machen, als ich bin. Und wenn Dinge in meinem Leben so richtig wehtun und schiefgehen, dann nicht weil ich das verdient habe. Sondern, weil das das Leben ist. Gut und böse, hell und dunkel, warm und kalt.
Für „Warum immer ich?" und „Das Leben ist ja so unfair!" ist kein Platz in meinem Leben! Einfach deshalb, weil es absoluter Schwachsinn ist. Fühle ich mich besser, wenn ich solche Dinge zu mir sage? Nein. Ich fühle mich besser, wenn ich morgens aufstehe und daran denke, was ich eigentlich für eine starke, clevere, einzigartige Person bin.
Ich kann es mir jeden Morgen aussuchen. Ich kann jeden Tag heulen, mich verachten, bemitleiden und mit einer Miene wie zehn Jahre Regenwetter durch den Tag gehen. Oder ich kann mich aufrichten, rausgehen und mein Leben rocken, es genießen, auf dieser Welt sein zu dürfen. Schließlich haben wir nur dieses eine Leben. Die Angst vor dem Versagen sollte einfach niemals so groß sein, als dass ich die nächsten Tage, Wochen, Jahre meines Lebens weiter mit Unglück und Zweifeln über mich selbst verschwende. Niemand kann für uns entscheiden oder uns sagen, wie wir zu leben haben, wie wir auszusehen haben, was schön und was das Richtige für uns ist. Nur wir selbst. Alles wird irgendwie und irgendwann Sinn machen, auch wenn wir es im ersten Moment nicht sehen können und auch wenn es oft ein steiniger Weg ist. Wir müssen selbst unser treuester Freund sein, zu uns stehen, uns lieben, wertschätzen und annehmen, wie wir sind, um uns nicht immer in anderen Personen selbst zu verlieren.
All das ist mir in den letzten Wochen bewusst geworden. Und alle hier haben einen riesigen Teil dazu beigetragen. Wir haben zusammen gelacht, geweint und uns unterstützt. Waren immer füreinander da. Ich habe nicht daran geglaubt, dass es besser werden und anders sein kann. Und jetzt sitze ich hier, bin ich auf einem guten Weg, gesund zu werden, habe ich wundervolle Personen kennenlernen dürfen, habe ich wieder Ziele, Träume und Möglichkeiten. Darf ich mir wieder Schokolade, Eis und was auch immer erlauben und ich darf wieder Freude am Essen haben. Es hat sich einfach gelohnt, diesen Umweg zu gehen. Und dafür bin ich unglaublich dankbar.
"No tree can grow to heaven, unless its roots reach down to hell." (Zitat von Carl Gustav Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie)
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Anonym, 22 Jahre, am Ende der Intensivphase