Die momentane Situation ist schwierig für uns alle. Familien sitzen eng aufeinander – Homeoffice, Homeschooling, Ausgangsbeschränkungen vereinen alle unter einem Dach! Da kann es leicht zu Stress und Konflikten kommen.
Wenn Du an einer Essstörung leidest, stellt Dich diese Situation jedoch vor ganz besondere Herausforderungen. Unter Belastung steigt meist auch der Symptomdruck. Essanfälle, Erbrechen, aber auch radikale Einschränkungen der Nahrungsmenge oder exzessive Bewegung werden wahrscheinlicher. (Online-Sportprogramme oder ausgedehntes Joggen als eine der wenigen erlaubten Möglichkeiten, mal rauszukommen, sind für Patientinnen mit einer Essstörung Gift.) Viele Ressourcen, die wir für mögliche Risikosituationen mit unseren Patientinnen und Patienten erarbeiten – rausgehen, die Situation verlassen, etwas Schönes machen, sich mit Freunden treffen – funktionieren nicht mehr oder nicht mehr so gut. Was also tun, wenn die Essstörung gerade schlimmer wird?
1. Hol Dir Unterstützung!
Selbst wenn eine persönliche Begegnung nicht möglich ist, gibt es Menschen, die für Dich da sind: Familienmitglieder, Freunde, ehemalige Mitpatienten und professionelle Helfer. Du kannst sie anrufen, Dich zu Videochats mit ihnen verabreden, ja, Dich mittlerweile sogar zu einem Spaziergang – natürlich mit Abstand – verabreden. Überlege Dir, welche Personen gute Ansprechpartner für Dich sind: Weiß die Person von Deiner Krankheit? Ist sie mit deren Besonderheiten vertraut? Ist sie in der Lage, ruhig und gelassen zu reagieren, wenn Du von Deinen Nöten erzählst? Fällt es Dir leicht, mit dieser Person über Deine Essstörung zu sprechen?
Wenn Du nicht weißt, an wen Du Dich wenden kannst, dann ist jetzt ein guter Zeitpunkt, Dir professionelle Hilfe zu holen. In München stehen Dir zum Beispiel die örtlichen Beratungsstellen für Essstörungen mit Rat und Tat zur Seite (Caritas Fachambulanz für Essstörungen, Cinderella e.V., Therapienetz Essstörung). Du kannst dort einfach anrufen oder eine Email dorthin schreiben. Die Kolleginnen werden sich Zeit nehmen, um mit Dir mögliche Lösungsstrategien zu besprechen. Und natürlich kannst Du auch im TCE anrufen, falls Du gerne eine Therapie bei uns machen möchtest.
2. Halte Dich an die Essstruktur!
Wenn Du schon einmal im TCE warst, weißt Du, worüber ich blogge: Gerade jetzt ist es ganz besonders wichtig, dass Du Dich an die regelmäßigen Mahlzeiten hältst. (Im TCE sind es sieben: Frühstück, 1. Zwischenmahlzeit, Mittagessen, 2. Zwischenmahlzeit, Kaffeemahlzeit, Abendessen und Spätmahlzeit.) Selbst wenn es Dir nicht immer gelingen sollte, Dich an die erforderlichen Mengen zu halten, so ist schon die Struktur allein ein wichtiger Halt. Sie gliedert Deinen Tag, sie unterstützt Dich dabei, regelmäßig und ausreichend zu essen, sie beugt Essanfällen vor und die Mahlzeiten versorgen Dich mit Energie – das ist gerade in Krisenzeiten ganz besonders wichtig.
Falls es Dir auch mit Unterstützung nicht gelingen sollte, die Mahlzeitenstruktur einzuhalten, dann hol Dir professionelle Hilfe (s.o.)! Als ehemalige Patientin oder ehemaliger Patient kannst Du Dich vielleicht zur tagklinischen Wiederauffrischung im TCE anmelden.
3. Nutze Bewegung in Maßen und möglichst nicht allein!
Falls Dein Gewicht im gesunden Normalbereich liegt, kannst Du auch Bewegung als Ressource nutzen. Suche Dir eine Bewegungsart, die Dir Freude macht und die auch jetzt noch möglich ist, z.B. Spazierengehen, Radfahren oder Tanzen zu Deiner Lieblingsmusik. Wichtig ist, dass Du Dir ein zeitliches Limit setzt: Gegen einen täglichen Spaziergang ist nichts einzuwenden, von einem dreistündigen Gewaltmarsch ist hingegen dringend abzuraten. Auch YouTube-Videos sind mit Vorsicht zu genießen. Suche Dir auf jeden Fall jemanden, der mit Dir gemeinsam Sport macht, jemanden, der von deiner Essstörung weiß und Dich auf Deinem Genesungsweg unterstützen kann. Im TCE empfehlen wir – unabhängig von der alltäglichen Bewegung, z.B. Spazierengehen – zwei Stunden Sport pro Woche als Richtschnur. Und ganz wichtig: Es sollte eine Bewegung sein, die Dir gut tut, die Dir Freude macht und Deine Stimmung hebt – kein Muss, kein Pflichtprogramm.
Wenn Du untergewichtig bist, geh nicht länger als 20 Minuten täglich spazieren, in langsamem Tempo und nur in Begleitung. Falls Du nicht in der Lage bist, Deine Bewegung eigenverantwortlich zu reduzieren, dann hol Dir unbedingt Hilfe!
4. Sei mitfühlend mit Dir selbst!
Die momentane Situation ist eine besondere Herausforderung für uns alle. Es ist völlig normal, wenn Du Dich unter den gegenwärtigen Umständen besonders gestresst fühlst, genervt reagierst oder größere Schwierigkeiten als sonst hast, Deiner Essstörung etwas entgegen zu setzen. Erinnere Dich daran, jetzt liebevoll und mitfühlend mit Dir selbst umzugehen, auch und gerade, wenn nicht alles so läuft, wie Du es Dir vorgestellt hast. Anstatt Dich selbst zu kritisieren, sprich Dir lieber selbst Mut zu: „Dies ist eine besonders schwierige Zeit – für mich wie auch für alle anderen Menschen. Auch wenn ich meine Ziele im Moment nicht immer umsetzen kann, gebe ich nicht auf. Ich bewahre Ruhe und konzentriere mich auf das, was möglich ist. Ich gestehe mir zu, Fehler zu machen, und erlaube mir, Hilfe zu holen, wenn ich alleine nicht mehr weiter weiß."
Du kannst auch einen liebevollen, selbstmitfühlenden Brief an Dich selbst schreiben oder jeden Abend drei Dinge notieren, die am vergangenen Tag gut gelaufen sind oder Dir Freude gemacht haben. Und auch hier gilt: Falls es Dir nicht mehr gelingen sollte, mitfühlend mit Dir selbst zu sein und Du Dich stattdessen dabei ertappst, Dich selbst permanent abzuwerten und niederzumachen, dann hol Dir Hilfe!
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Dr. Karin Lachenmeir ist Psychologische Psychotherapeutin und seit 2002 im TCE tätig, seit 2008 als Leiterin der Einrichtung. Sie ist approbierte Verhaltenstherapeutin und hat Weiterbildungen in Körpertherapie und Systemischer Beratung absolviert. Seit 2011 ist sie zudem als Dozentin und Supervisorin für verschiedene Münchner Weiterbildungsinstitute tätig. Am TCE hat sie die Verantwortung für alle personellen, organisatorischen und fachlichen Fragen. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten lesend oder schreibend, auf ausgedehnten Spaziergängen, im Kino, im Theater oder auf Reisen.