Wie Ihr sicher wisst, beschreiben unsere Patientinnen im TCE regelmäßig ihren „Tag in der Krankheit“. Hierzu schreiben sie einen Text, in dem sie reflektieren, wie sehr die Essstörung in allen Bereichen über ihr Leben bestimmt. Manche Patientinnen drehen den Spieß aber auch um und beschreiben ihren „Tag in der Gesundheit“ oder ihren „idealen Tag“, überlegen sich also, wie ihr Leben ohne die Essstörung aussehen würde. Eine von ihnen, Sophie, hat ihren idealen Tag mit uns geteilt.
„Es ist okay, wenn ich in diesem Moment erstmal in mich reinhorche und überlege, wie ich meinen idealen Tag gestalten würde. Es ist okay, wenn sich der Tag, den ich beschreiben werde, gerade leicht anfühlt und es ist ebenso okay, wenn er schon morgen anders aussieht. Ich darf mich von meinen eigenen Ansprüchen freimachen. Muss nicht von heute auf morgen alles Ideale in meinen Tag aufnehmen und kann mir immer die Option offenhalten, alles Schöne peu à peu in mein Leben zu integrieren.“
Und so sähe er nach meiner heutigen Vorstellung aus, mein idealer Tag:
Ich liege im Bett. Mich wecken die Vögel mit ihrem Zwitschern, die auf dem alten Walnussbaum draußen vor meinen bodentiefen Fenstern nisten. Es klingelt kein Wecker. Ich wache auf, weil mein Körper in der Nacht zur Ruhe gekommen und nun bereit für den Tag ist. Schwere Vorhänge dunkeln mein kleines Schlafzimmer ab, sodass ich nur schwer einschätzen kann, wie viel Uhr es ist. Ich stehe langsam auf, öffne die Fenster, lasse Sonnenstrahlen mein Zimmer beleuchten und krieche wieder zurück ins warme Bett. Wie lange ich da liege, rausschaue und meine Gedanken kommen und gehen lasse, weiß ich nicht.
Allmählich beginnt mein Magen leicht zu knurren. Also stehe ich auf und mache ruhige Hintergrundmusik an, zu der ich tänzelnd durch die Küche laufe. Der Holzboden knarzt unter meinen Füßen während ich Kaffee koche, die Milch aufschäume und sich mein Blick in meinem kleinen Garten verliert. Draußen pflücke ich dunkelrote Tomaten, suche nach reifen Beeren und freue mich über eine saftige Feige, die vom Baum hängt. Das Obst und Gemüse lege ich in einen kleinen Korb, den ich anschließend zu meinem Holztisch unter dem blühenden Kirschbaum trage. Von drinnen hole ich mein restliches Frühstück. Geröstete Brotscheiben, bisschen Joghurt, süße und salzige Aufstriche, ein paar Gewürze & Nüsse. Und nun sitze ich hier, schweife ab in die Ferne, summe zu meiner Musik, frühstücke nach Herzenslust und beobachte die grasenden Pferde auf der Weide vor mir.
Mit der Zeit packt mich meine Energie, ich räume alles auf, verschwinde im Bad, wo ich mich frisch mache, in luftige Sommerklamotten schlüpfe und meine Haare locker auf meine Schultern fallen lasse. Ab und zu kreuzen sich meine Blicke im Spiegel und ich sehe, wie meine Augen strahlen, ich mich leicht anlächeln und mich bei meinen Griffen friedvoll beobachten kann. Mein Herz macht einen kleinen Freudensprung, als es an der Haustür klingelt und wir uns lange umarmen.
Auf Fahrrädern rollen wir die Feldwege entlang, vorbei an Wildblumenwiesen und kleinen Wäldern bis hin zu einem türkisfarbenen Bergsee. Dort breiten wir unsere Handtücher aus, legen uns in die Sonne und fangen an zu erzählen. Wir führen ehrliche und vertraute Gespräche, geben uns die Sicherheit, die wir brauchen, damit Tränen kullern können und verlassen uns darauf, dass unser jeweiliges Gegenüber, auf seine Grenzen achtet. Aufgewärmt von der Sonne und müde von den langen Gesprächen laufe ich in Richtung See. Ich genieße es das kühle Wasser erst an meinen Füßen, meinen Beinen und dann an meinem Oberkörper zu spüren, bevor ich mit dem Kopf voraus in die Tiefe des Gewässers abtauche. Schwerelos lasse ich mich treiben. Später sitzen wir zusammen, philosophieren über die Menschen, die sich neben uns niedergelassen haben und knabbern an frischen Pommes mit Mayo, die wir an der kleinen Bude nebenan gekauft haben.
Und so streift die Zeit an uns vorbei…
Es riecht nach frischem Holunder, als wir die Räder in Richtung Feldweg schieben, uns voneinander verabschieden und unseren Heimweg antreten. Ich lasse den gemeinsamen Mittag auf meinem Rückweg Revue passieren, spüre eine innere Wärme und ein leichtes Kribbeln im Bauch mit Blick auf den anstehenden Abend. Zuhause angekommen, nehme ich mir Zeit zum Ausräumen und setze mich mit einem Tee aufs Sofa. Während ich da so sitze, telefoniere ich ein bisschen mit Lotta, vielleicht auch mit Oma oder meiner Mama. Wir quatschen und berichten von den letzten Tagen. Ich glaube, dass meine Augen beim Erzählen leuchten, weil wir viel lachen können und uns bestärkende Worte zusprechen. Irgendwann beende ich das Gespräch, mache Musik an, beginne zu singen und starte mit meiner Duschparty… Als es erneut an der Tür klingelt, stehe ich vor meinem Kleiderschrank und überlege, was ich anziehen möchte. Gemeinsam kommen wir zu einer Entscheidung, stoßen auf den bevorstehenden Abend an, snacken salzig-geröstete Nüsse und machen uns chic.
Am frühen Abend verlassen wir mein kleines Holzhäuschen, springen auf die Räder und sind im Nu in der abendlich gestimmten Großstadt. Wir fahren durch volle Seitenstraßen, die Dächer von den Häusern glitzern in der untergehenden Sonne und von allen Seiten schallen Menschenstimmen und Musik. Mittlerweile sind wir angekommen, schließen unsere Räder an die der Anderen an und begrüßen alle mit einer herzlichen Umarmung. Wir setzen uns an die lange Tafel bestellen bei den Kellnern einen bunten Mix aus Getränken und unser Abendessen. Vorbei an meinen Freunden blicke ich auf eine kleine Kirche, die mitten auf dem Platz steht und von Bäumen und Bänken umgeben ist. Kinder malen mit Kreide oder spielen fangen. Andere nippen an ihren Getränken und wippen zu verschiedenen Melodien. Es liegt eine friedvolle Sommerstimmung in der Luft. Der Geruch vom Essen zieht in meine Nase und ich tauche ab in den Abend. Wir quatschen, essen, trinken, spielen, hören, singen & tanzen – Wir genießen.
Es ist spätnachts als wir uns voneinander verabschieden. Auf dem Heimweg spüre ich erst, wie schwer meine Beine sind. Das Strampeln ist mühsam, Müdigkeit breitet sich in mir aus und der Weg zieht sich. Trotzdem fühle ich mich leicht beflügelt und bin dankbar. Dankbar für den ausgelassenen Abend, für die Stunden am See, für das Frühstück unter meinem Baum. Dankbar für die Menschen, die mich den Tag über begleitet haben, für jedes Gespräch, für jede zwischenmenschliche Interaktion. Dankbar für jedes Gefühl, das ich gespürt, für all die Bilder, die ich gesehen, all die Gerüche, die ich wahrgenommen und all die Töne, die ich gehört habe. Ich bin dankbar dafür, dass ich mir diesen Tag ermöglicht habe. Zuhause greife ich zu einer Schüssel, befülle sie mit Schokomüsli und kalter Milch und komme langsam zur Ruhe. Mit gutem Gewissen kann ich mich nach einer kurzen „Katzenwäsche“ ins Bett legen, meine Augen schließen und mit einem kleinen Lächeln im Gesicht einschlafen.
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Sophie, 23 Jahre, Patientin der Stabilisierungsphase