Ich sitze hier und lese ein Buch, naja gut zugegebenermaßen lese ich wohl just in diesem Moment kein Buch, sondern tippe mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit in meinen Laptop, damit nur keines der mir geistreich erscheinenden Worte in meinem Kopf verloren geht. Ich sitze hier, hier: Sxxxxxstraße xx in 7xxxx Vxxxxx-Sxxxxxx. Nein, ich erwarte keinen Besuch und ich hoffe auch auf keinen, selbst dann nicht, wenn dieses Schriftstück tatsächlich im Blog landet. Diese Adresse ist aus anderen Gründen so viel wichtiger: Sxxxxxxx – ich habe es bis nach Sxxxxxx geschafft. Geschafft? Geschafft habe ich es meiner Ansicht nach erst dann, wenn ich es aus Sxxxxxx auch wieder rausgeschafft habe, aber Therapeut*innen stehen ja so wahnsinnig auf Erfolgspräsentationen, also gut, zumindest meine beiden, und um deren Bedürfnis zu befriedigen und meine Angst vor Fehlern zu besänftigen:
Ich habe es geschafft.
Was habe ich denn geschafft, fragt ihr euch nun, da ihr mich ja nicht kennt. Ich könnte jetzt einfach so daherkommen und behaupten, na ein gutes halbes Jahr essstörungsfrei, das habe ich geschafft.
Essstörungsfrei, als würde diese doofe Kuh so mir nichts, dir nichts in den Urlaub fahren, vielleicht auf die Karibischen Inseln und dann erkennen, ach du, Amelie, hier ist das Wetter viel besser, ich glaube, ich bleibe lieber hier und lass dich da alleine versauern im tristen Nieselregen des Schwarzwalds. Essstörungsfrei, als wäre meine Anorexie vergleichbar mit einer Krebsdiagnose und man schaut von PET-Scan zu PET-Scan, ob neue Krebse nachgewachsen sind in meinem Körper. (Irgendwie musste ich gerade daran denken und ein wenig schmunzeln, wie lustig die Vorstellung wäre, dass da kleine Krebstierchen in mir wohnen.) Als wäre die Essstörung etwas, das verschwinden kann und dich eines Nachts mit voller Wucht und einem schrecklichen Rezidiv wieder auf den Boden der Tatsachen holt und dich angrinst: „Na, öfters hier? Ja, ich auch! Bin aus dem Urlaub nun doch zurückgekehrt.“
Nein, ich habe es nicht geschafft, zumindest nicht den Teil mit dem essstörungsfrei. Ich glaube auch nach allem, was ich weiß, und nach all den neurobiologischen Literaturrecherchen, die ich schon angestellt habe, dass das echt verdammt unmöglich ist. Das klingt perspektivlos und so, als würde ich schon wieder ausschließlich als Version meiner Essstörung leben, aber so ist das nun auch wieder nicht und ich werde euch schon noch den Hoffnungsschimmer schenken, den jedes Happy End braucht. Aber Happy End – merkt ihr selbst, die gibt‘s eben erst am Ende, denn welche Autorin oder welcher Autor verrät die Pointe mitten im Buch? – Richtig, niemand, denn sonst verkauft sich das Buch nicht, weil es keiner lesen möchte.
So, also nun zurück zu dem Buch, das ich vorgegeben habe, genau in diesem Moment zu lesen. Keine Ahnung, ob ich nun auch eine Quelle nennen muss, vermutlich bin ich da doch sehr geprägt von meinem wissenschaftlichen Studiengang. Also dieses Buch ist wundervoll, wundervoll unverständlich für jeden Menschen, denn es geht um uns, um die Entstehung des Menschen aus dem einen Ereignis Urknall heraus. Es geht um die Zufälligkeit, dass alles genau zu Millionen von Zeitpunkten so geschehen ist, wie es eben geschehen ist, um unser Sonnensystem entstehen zu lassen und letztlich auch den Menschen zu kreieren. Das ist so unglaublich und ich kann mir nicht mal einen Bruchteil des Inhalts dieses wundervollen Buches merken und doch ist auch ein wenig hängen geblieben – puh zum Glück: Die Existenz menschlichen Lebens ist wahnsinnig, wahnsinnig unbegreiflich und eigentlich auch wahnsinnig unrealistisch und vor allem unbedeutend. Das Universum ist so unglaublich groß, dass wir es nicht einmal begreifen können und mit „wir“ meine ich auch all die krassen Wissenschaftler*innen, die Fächer wie Astronomie oder sogar Physik studierten. Mich begeistert das irgendwie, denn ich bin so unglaublich irrelevant. Ich bedeute in diesem Universum eigentlich nichts. Ich bedeute in diesem riesigen irgendetwas nicht wirklich viel, natürlich den Menschen, die mich lieben, schon, aber sobald ich in diese anderen Dimensionen wechsle, bin ich sowas von irrelevant. Und das stimmt mich irgendwie zuversichtlich, denn es ist so absolut scheißegal (sorry an der Stelle für die Wortwahl), was ich mal werde oder tue oder kann und nicht kann, das interessiert irgendwann einfach niemanden mehr. Auch Newton und die vielen anderen schlauen Köpfe geraten irgendwann in Vergessenheit, aus dem einfachen Grund, weil in weiter Zukunft das uns bekannte Universum nicht mehr existieren wird!
„Sag mir, was hast du vor – mit deinem einen wilden, kostbaren Leben?“ – Mary Oliver.
Das ist die einzige Frage, die wir uns in unserem Leben stellen sollten und ich bin gerade dabei herauszufinden, was das für mich bedeutet. Eines ist mir hierbei ganz klar: Ich möchte in diesem einen Leben nicht weiterhin die Zeit damit verschwenden, nach selbstzerstörerischen sowie essgestörten Gedanken zu leben. In diesem Universum, betrachtet von Sonne, Mond und allen uns bekannten Sternen, ist es so unglaublich egal, wie ich aussehe, was ich esse oder was ich kann. Ich möchte keine Zeit mehr daran hin verschwenden und endlich ein wildes und würdevolles Leben nach meinen eigenen Vorstellungen genießen.
So, nun zum versprochenen Happy End: Es gibt vermutlich kein Stadium von „essstörungsfrei“, aber es ist unsere Entscheidung, wie viele Essstörungs-Metastasen wir zulassen und welche Rolle wir dem Ganzen schenken wollen, in einem Universum, in dem das doch so völlig „wurscht“ ist. Ich kann euch keine Heilung versprechen und auch nicht rückmelden, dass es nach Entlassung keine Essstörung mehr gibt, aber ihr dürft eben selbst entscheiden und ich stürze mich in Bücher und vieles andere, um mir selbst die Frage beantworten zu können: „Was hast du vor – mit deinem einen wilden, kostbaren Leben?“
Ich möchte das wirklich herausfinden, denn meine Existenz ist entwicklungsgeschichtlich betrachtet weniger als ein Wimpernschlag. Ich kann keinen von euch retten, denn ihr müsst den Weg der Genesung selbst gehen und mit viel Disziplin an euren eigenen Träumen festhalten, aber es ist möglich! Denn es war möglich aus Abermillionen Zufällen dieses Sonnensystem zu erschaffen, da ist es auch möglich, ein Leben nach euren Vorstellungen zu erschaffen! Ich bin noch lange nicht angekommen, aber jeden Tag finde ich es ein wenig mehr heraus und ich wünsche euch sehr, dass ihr euch für die Entdeckung des wilden und kostbaren Lebens entscheidet!
„You go“ (um hier abschließend noch einmal ein für mich wichtiges Zitat von einer mir wichtigen Begleiterin auf dem Weg zum erfüllten Leben einzufügen).
YOU GO!
PS: Ich habe viel Lebenszeit mit vermeintlichem Perfekt-Sein(-Wollen) verbracht und um alle meine Imperfektionen nach Brené Braun lieben zu lernen: die Kommasetzung lag mir noch nie, wird mir auch nie liegen und daher erkenne ich an dieser Stelle einfach mal an, dass auch dieser Text bestimmt viele Grammatikfehler enthält, aber es ist mir egal, weil vom Mond aus betrachtet interessiert sich keiner mehr dafür (auch Goethe nicht)! ?
Amelie, 24 Jahre, ehemalige Patientin des TCE