Bericht Nr. 1 zu Therapieausflügen – von Simone Schiele
„Und?“, frage ich meine Patientin, nachdem wir das TCE hinter uns gelassen haben, „wie geht es ihnen nun mit unserem Vorhaben?“. „Ehrlich gesagt, habe ich eben tatsächlich noch gedacht, wir könnten doch einfach in ihrem Büro bleiben und dort unser Einzel machen“, kommt die ehrliche Antwort. Meine Patientin ist schon eine ganze Weile im TCE; sie befindet sich im Übergang von der Intensiv- in die Stabilisierungsphase. Sie kennt die Essstruktur in- und auswendig; sie musste viel zunehmen, um ihr Normalgewicht zu erreichen; sie unterstützt neue Patientinnen tatkräftig, sich an all das Neue und Herausfordernde im TCE zu gewöhnen; sie ist quasi ein „alter Hase“ bei uns, der weiß wie es läuft. Und nun möchte ich mit ihr in das nahegelegene Cafe Ruffini zur Kaffeemahlzeit gehen. Denn, trotz aller Errungenschaften und Veränderungen, die sie in den letzten Monaten für sich erreichen konnte, gibt es nach wie vor Bereiche, die schwierig und ungewohnt sind. In diesem Fall: in ein Café gehen, sich etwas gönnen, Geld für Essen ausgeben, Kuchen essen und das womöglich auch noch genießen.
Es ist immer wieder spannend, mit Patienten hinaus zu gehen - raus aus dem gewohnten Umfeld - raus aus dem Büro mit dem sich Gegenübersitzen, dem Reden, Zuhören, Erfahren, Verstehen, Unterstützen. Raus ins Leben. Denn, was erwartet mich denn da? Welche Ängste werden dort draußen aktiviert, die oftmals im geschützten Raum des Therapeutenbüros gar nicht erfahrbar sind? Als Therapeutin habe ich die Möglichkeit, meine Patientin im veränderten Umfeld neu zu erleben, und somit auch neu kennenzulernen. Grund genug, dies von Zeit zu Zeit immer wieder einmal auszunutzen. Während wir zum Ruffini hinüber spazieren, beginnt schon unser Einzel. Anders als sonst; das nebeneinander Gehen gibt einen anderen Rhythmus vor, auch für das Gespräch. Wie geht es ihr eigentlich mit dem schicken Neuhausen, wo wir nun seit ca. 3 Wochen sind? Was löst die neue Umgebung bei ihr aus? Was steht demnächst in der Stabilisierungsphase für sie an? Was muss diesbezüglich noch organisiert und bedacht werden?
Schließlich stehen wir vor dem Café. Dort gibt es gleich im Schaufenster das reichhaltige Kuchen- und Tartebuffet zu betrachten. Ich freue mich bereits auf den Genuss! Und meine Patientin? Guckt skeptisch, zweifelnd. „Na ja, schaut ja ganz lecker aus“, gibt sie schließlich schief lächelnd von sich. Wir betreten das Café. „Ach, wie gut, hier ist es ja gar nicht so spießig, wie der Rest von Neuhausen“, lacht sie. „Ja, deshalb habe ich das ja auch für sie ausgesucht.“ Also, Platz aussuchen, hinsetzen, Tarte und Kaffee bestellen. Die Kuchenstücke landen vor uns: Mocca-Cassis-Trüffel und Banane-Schokomousse. „Und wie schmeckt´s?“, frage ich. „Na ja, schmeckt nach ganz schön viel Sahne...“. „Ja! Und?“, lache ich, und versuche damit zu vermitteln, dass das auch okay ist. „Doch schmeckt schon ziemlich lecker.“, gibt sie schließlich zu. Und so essen wir in Ruhe weiter.
Durch die benachbarten Gäste ergibt sich ein anderes Gespräch, als wir es im geschützten Raum meines Büros hätten. Wir gehen weniger in die Tiefe; plaudern vielleicht eher, womit unser heutiger therapeutischer Kontakt eine neue Qualität bekommt. Hier sitzen am Nachmittag zwei Frauen im Café und unterhalten sich; so wie alle anderen im Lokal auch. Normalität wird erfahrbar.
Mit meiner Patientin verlasse ich nach einer Stunde das Café. 7 € für sich ausgegeben. Genuss zugelassen. Zwar nur schwarzen Kaffee ohne Zucker, anstatt Cappuccino, geschweige denn Latte Macchiato, getrunken und das auf der Untertasse liegende Cantuccini ignoriert, aber immerhin. Wir haben ja noch Zeit und Möglichkeiten für derartige Unternehmungen in der nun anstehenden Stabilisierungsphase. „Und werden sie auch mal eigenständig hierher gehen?“, frage ich sie auf dem Weg zurück ins TCE. „Ja, warum nicht!
Bildnachweis: istockphoto.com/AlexPro9500
Simone Schiele hat Psychologie in Bonn und Salzburg studiert und ist seit 2008 als approbierte psychologische Psychotherapeutin im TCE tätig. Als Bezugstherapeutin begleitet sie in Einzeltherapie ihre PatientInnen. Sie leitet derzeit die Fertigkeitengruppe und fördert dabei den Umgang mit Gefühlen, den Aufbau von sozialen Fertigkeiten, den Abbau von Anspannungszuständen und die Entwicklung von Achtsamkeit. Neben ihrer Teilzeittätigkeit im TCE leistet sie zuhause Familienarbeit. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich gerne mit ihrer Familie und ihren Freunden, sowie mit Yoga, Literatur, Filmen und Theater.