Die Ursachen von Essstörungen sind vielfältig. Es kommen immer mehrere Faktoren – biologische, familiäre, individuelle und soziokulturelle – zusammen, wenn sich eine Essstörung entwickelt. Dabei müssen die einzelnen Ursachen keineswegs schwer sein, auch mehrere leichte bis mittelschwere Belastungsfaktoren können zur Erkrankung führen.
Biologische Faktoren
Familienuntersuchungen und Zwillingsstudien sprechen für eine erbliche Komponente bei der Entwicklung von Essstörungen. Bei eineiigen Zwillingen erkranken überzufällig häufig beide Geschwister. Auch körperliche Faktoren wie ein überdurchschnittlich hohes oder niedriges Gewicht vor Ausbruch der Krankheit können das Risiko für eine Essstörung erhöhen. Zudem finden sich bei Essgestörten biologische Veränderungen wie Neurotransmitterstörungen, Fehlfunktionen des Stoffwechsels und des Hormonsystems oder Störungen des Hunger- und Sättigungsgefühls. Allerdings ist nicht immer klar, ob diese Veränderungen Ursache der Essstörung sind oder ob sie als Folge auftreten.
Bei allen biologischen Faktoren ist davon auszugehen, dass sie das Risiko für eine Essstörung erhöhen, wenn weitere Belastungsfaktoren aus anderen Bereichen hinzukommen.
Der bedeutendste biologische Risikofaktor ist das Geschlecht. Frauen im Alter zwischen 12 und 35 Jahren haben ein zwölfmal höheres Risiko, an einer Essstörung zu erkranken als Männer.
Familiäre Faktoren
Es gibt keine typischen Eigenschaften oder Strukturen einer Familie, die als krankmachend gelten können. Kinder aus behüteten Familien erkranken genauso an Essstörungen wie Kinder aus Familien mit vielen Konflikten. Dennoch sind einige familienbedingte Faktoren bei der Entstehung von Essstörungen von besonderer Bedeutung. In Familien magersüchtiger PatientInnen halten die Familienmitglieder oft eng zusammen und es herrscht eine hohe Norm- und Leistungsorientierung. Konflikte werden vermieden und die Eltern neigen dazu, ihre Kinder zu stark zu behüten.
Bulimische PatientInnen leben häufiger in Familien, die von heftigen Konflikten und einem Ideal der Stärke geprägt sind. Die Familienmitglieder neigen häufiger zu impulsiven Handlungen und zeigen weniger emotionales Einfühlungsvermögen als Angehörige nicht-essgestörter Personen.
Nicht selten leiden auch Familienangehörige von essgestörten PatientInnen unter psychischen Krankheiten, z. B. Essstörungen, Depressionen oder Alkoholabhängigkeit.
Individuelle Faktoren
Ein niedriges Selbstwertgefühl, Perfektionismus und Impulsivität sind Faktoren, die eine Essstörung begünstigen können. Das niedrige Selbstwertgefühl und der Perfektionismus drücken sich oft in tief verwurzelten Grundannahmen über sich und die Welt aus, wie zum Beispiel „Wenn ich nicht alles perfekt mache, bin ich ein Versager“ oder „Nur wenn jeder mich mag und mein Verhalten gutheißt, bin ich als Mensch etwas wert“. Betroffene, die an einer Essstörung leiden, waren als Kinder oft sehr brav und angepasst. Dies macht sie anfänglicher für gesellschaftliche Normen und den Druck nach Schlankheit. Perfektionismus steht vor allem bei magersüchtigen PatientInnen in einem deutlichen Zusammenhang mit der Entstehung einer Essstörung. Umgekehrt scheint die Impulsivität eher für die Entwicklung einer Bulimie relevant zu sein.
Soziokulturelle Faktoren
Essstörungen treten weit häufiger in Kulturen auf, die das in den Industrieländern vorherrschende Schlankheitsideal übernommen haben. Oft ist der Zusammenhang sehr deutlich: Sobald die Länder sich für den westlichen Lebensstil öffnen, steigen die Erkrankungszahlen deutlich an. Vor allem Frauen fühlen sich dem Schlankheitswahn verpflichtet, wenn sie im beruflichen und gesellschaftlichen Leben erfolgreich sein wollen. Die Werbung präsentiert retuschierte Idealfiguren, und die Bekleidungsindustrie verleitet mit kleinen Konfektionsgrößen vor allem junge Menschen dazu, den mageren Models nachzueifern. So entsteht ein Klima, in dem dick von vielen mit unattraktiv und unbeliebt, dünn mit attraktiv, glücklich und erfolgreich gleichgesetzt wird – ein Klima, in dem Essstörungen gut gedeihen können.
Noch wichtiger als das gesellschaftliche Schlankheitsideal sind aber oft die Äußerungen und Verhaltensweisen der Familie, Freunde und Klassenkameraden. Körperbezogene Kommentare bis hin zu Hänseleien oder die besondere Betonung von Schlankheit, Figur und Gewicht lassen in den Betroffenen die Überzeugung wachsen, dass sie schlank sein müssen, um anerkannt und beliebt zu sein. Auch eine übermäßige Fokussierung auf Schlankheit, Leistung oder Fitness in Familie oder Freundeskreis sowie ausgeprägtes Diätverhalten oder exzessives Sporttreiben bei nahen Bezugspersonen können die Entwicklung einer Essstörung ebenfalls ungünstig beeinflussen.
Berufsgruppen, bei denen es auf ein geringes Körpergewicht ankommt, sind besonders gefährdet. Dazu gehören Models, Skispringer, Jockeys und Tänzer. Auch Menschen, die exzessiv Sport oder gar Leistungssport treiben, haben ein erhöhtes Risiko, an einer Essstörung zu erkranken.
Was bringt die Essstörung zum Ausbruch?
Die oben genannten Ursachenfaktoren erhöhen das Risiko für die Entstehung einer Essstörung im Laufe eines Lebens. Ob und wann die Erkrankung tatsächlich auftritt, lässt sich dadurch jedoch nicht vorhersagen. Dem Krankheitsbeginn gehen häufig belastende Ereignisse voraus, die als Auslöser der Essstörung gelten können. Darunter fallen kritische Erlebnisse wie Trennung, Umzug, Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt und andere Belastungen, denen die Betroffenen sich nicht gewachsen fühlen.
Warum hören Essstörungen nicht einfach wieder auf?
Selbst wenn die Entstehungsbedingungen einer Essstörung in der Vergangenheit liegen und in der Gegenwart gar nicht mehr relevant sind, dauert die Störung oft weiter an – es sind dann andere Faktoren dazugekommen oder entstanden, die den bestehenden Teufelskreis in Gang halten. Dazu gehören: ein hohes Ausmaß an Stress und Belastung, das Fehlen von Strategien, um den Stress bewältigen zu können (aktives Problemlösen, Gefühlsregulation, Entspannung), eine verzerrte Körperwahrnehmung und problematische Denkmuster hinsichtlich Essen, Figur und Gewicht. Speziell für die Anorexia nervosa scheint auch das Kontrollgefühl, das als Folge der Störung entsteht, ein wichtiger aufrechterhaltender Faktor zu sein: Es gibt den Betroffenen ein gutes Gefühl, ihren Hunger und damit ihren Körper zu beherrschen. Das Ausmaß von Folgeschäden einer Magersucht ist abhängig von Krankheitsdauer und Schwere der Erkrankung.